Seit mehr als 10 Jahren arbeiten wir, das MECS und die Aktien-Gesellschaft der Dillinger Hüttenwerke (Dillinger) in einer strategischen Forschungskooperation zusammen, die die Stahl- und Gefügeforschung revolutioniert. Dillinger, einer der größten deutschen Stahlproduzenten und Europas führender Grobblechhersteller, bringt über 300 Jahre Industriegeschichte mit und ist ein zentraler Akteur in der Weiterentwicklung der Stahlbranche.
Im Mittelpunkt unserer Kooperation steht der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) und maschinellem Lernen (ML) zur Analyse des Werkstoffgefüges – der mikroskopischen Struktur eines Materials. Das Gefüge besitzt als der Hauptinformationsträger eine zentrale Rolle in der Entwicklung neuer Hochleistungswerkstoffe. Es speichert Informationen zum Herstellungsprozess und ist maßgeblich für die Gebrauchseigenschaften des Werkstoffs verantwortlich.
Unsere ersten Schritte in der KI-basierten Gefügeanalyse reichen bis ins Jahr 2007 zurück, als statistische Methoden zur Klassifizierung von Gusseisenarten entwickelt wurden – eine Arbeit, die mit dem Werner-Köster-Preis der Deutschen Gesellschaft für Materialkunde (DGM) ausgezeichnet wurde. 2013 erkannten wir gemeinsam mit Dillinger das Potenzial von KI als Schlüsseltechnologie für die Zukunft der Werkstoffforschung.
Heute blicken wir auf über 30 studentische Abschlussarbeiten, 25 internationale Konferenzbeiträge und zahlreiche Publikationen zurück. Besonders hervorzuheben ist die wegweisende Publikation von 2018, in der wir als eine der ersten weltweit Deep Learning zur Analyse von Gefügen einsetzten – ausgezeichnet mit dem Georg-Sachs-Preis der DGM.
Beschäftigt haben wir uns inzwischen mit fast allen Stahlgüten des Dillinger Produktportfolios, von verschiedenen Zweiphasenstählen über sog. Komplexphasenstähle hin zu Vergütungsstählen. Innerhalb der typischen Aufgabenstellungen der Korn- und Phasenanalyse stellen unsere Modelle zur Bestimmung der ehemaligen Austenitkorngröße sowie die Unterscheidung verschiedener Bainit- und Martensitarten sicher einige der Highlights dar.
Grundlage für die Implementierung dieser KI-Modelle sind natürlich Trainingsdaten in ausreichender Menge und Qualität. Dabei ist es nicht ausreichend, einfach nur die Gefügeaufnahmen in einen ML-Algorithmus einzugeben, stattdessen müssen wir in einer ganzheitlichen Betrachtung auch alle Schritte hin zum Erhalt einer Gefügeaufnahme berücksichtigen. Dabei geht es insbesondere um die Definition von Gefügeklassen, die Zuordnung der Grundwahrheit sowie das Veständnis metallographischer Varianzen.
Die von uns entwickelten Modelle zur Bestimmung der Kornstruktur und der Klassifizierung von Bainit- und Martensitarten befinden sich nun in den finalen Testphasen vor dem Serieneinsatz bei Dillinger. Mit robusten und verlässlichen KI-Modellen haben wir die Grundlage für eine präzisere und effizientere Werkstoffanalyse geschaffen.
Wir sind stolz auf diese erfolgreiche Partnerschaft und freuen uns darauf, auch in Zukunft gemeinsam die Grenzen der Stahl- und Materialforschung weiter zu verschieben.
Ihr seid neugierig geworden? Erfahrt mehr in unserem Paper “Overview: Machine Learning for Segmentation and Classification of Complex Steel Microstructures”!
Abbildung 1: (a) Quantifizierung der Lichtmikroskopaufnahme eines Vergütungsstahls (gelb = Martensit, pink = selbstangelassener Martensit, grün = unterer Bainit, blau = oberer Bainit, rot = unsichere Bereiche). (b) Segmentierung der ehemaligen Austenitkörner. Weiterführende Informationen: https://doi.org/10.3390/met14050553